Gerhard Richter gilt als bedeutendster Gegenwartskünstler der Welt. Die von ihm entworfenen Tholeyer „Richter-Fenster“ erklärte der Kunst-Star vor anderthalb Jahren zu seinem finalen großen Werk. An diesem Mittwoch feiert der Kölner Künstler seinen 90. Geburtstag.
Heute gilt Gerhard Richter als bedeutendster lebender Künstler der Welt. Mehr als 20 seiner Werke erzielten auf internationalen Kunstauktionen Verkaufserlöse von mehr als 20 Millionen US-Dollar. Der britische „Guardian“ feierte Richter als „Picasso des 21. Jahrhunderts“. Bedeutende Kunstmuseen in New York, Paris, Berlin oder Köln ehrten und ehren ihn mit Retrospektiven. Der „Kunstkompass“, ein Ranking der weltweit gefragtesten Künstler der Gegenwart, führt Richter seit Jahren auf Platz eins.
Richter wird 1932 in Dresden geboren und absolviert dort später ein Kunststudium (1951-1956)
Doch jeder fängt einmal klein an. Gerhard Richter kommt am 9. Februar 1932 als Sohn einer Buchhändlerin und eines Realschullehrers in Dresden zur Welt. Nach dem Krieg besucht Richter als 15-Jähriger neben der Handelsschule in Zittau einen Abendkurs in Malerei. Mit 18 Jahren entscheidet er sich für eine Laufbahn als professioneller Künstler und studiert – nachdem er sich 1950 noch erfolglos beworben hatte – ab 1951 an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden. Im Jahr 1956 schließt er das Studium ab und macht sich selbstständig.
1961 flieht Richter nach Westdeutschland und wird später Professor in Düsseldorf (1971-1994)
Im Sommer 1959 besucht Richter die documenta II in Kassel. Ein Schlüsselereignis. Er ist beeindruckt von einigen ausgestellten Werken: „Die Unverschämtheit! Von der war ich sehr fasziniert und sehr betroffen. Ich könnte fast sagen, dass diese Bilder der eigentliche Grund waren, die DDR zu verlassen. Ich merkte, dass irgendetwas mit meiner Denkweise nicht stimmte.“ In der Folge reift in Richter der Entschluss in die Bundesrepublik zu fliehen: „Mir ging es ja zum Schluss relativ gut in der DDR. Mit der Berufsbezeichnung Wandmaler war ich nicht so den Formalismus-Vorwürfen ausgesetzt wie die Tafelmaler […]. Aber das war eine unbefriedigende Aussicht, vor allem deshalb, weil die Bilder, die ich wie gewohnt nebenher machte und die ja mein eigentliches Anliegen waren, immer schlechter wurden, unfreier und unechter.“ Im März 1961 – nur fünf Monate vor dem Mauerbau – fährt Richter zusammen mit seiner ersten Frau Ema (mit der er von 1957 bis 1980 verheiratet war) von Ost-Berlin mit der S-Bahn in den Westsektor und flieht in die Bundesrepublik. In seine Heimatstadt Dresden wird er erst 25 Jahre später zurückkehren.
Im Westen genießt er nun die neuen Freiheiten. Für die Proteste der „68er“ hat er aufgrund seiner DDR-Vergangenheit nur wenig Verständnis: „Ich wusste wirklich nicht, was die Protestierer im Westen eigentlich wollten. Es war phantastisch hier, so viel Freiheit, und das bezeichnen die dann als muffig, spießig und faschistisch, als bleierne Zeit. Bleiern war die DDR, und nur sie hatte die Methoden der Einschüchterung, der Gewaltausübung und Lügenpropaganda fast eins zu eins vom Nazi-Deutschland übernommen.“ Von 1961 bis 1964 studiert Richter an der Staatlichen Kunstakademie in Düsseldorf.
Im Jahr 1967 wird er Gastprofessor an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg. Im Sommer 1971 wird Richter schließlich an die Kunstakademie Düsseldorf berufen, wo er bis 1994 als Professor wirkt.
„Genialer Alleskönner der modernen Kunst“
Ob Gemälde, Zeichnung, Kirchenfenster oder Konstruktion, ob grau oder farbig, ob mit Rakel oder Pinsel, ob fotorealistisch oder abstrakt, ob Landschaften oder Personen: Äußerst abwechslungsreich und vielfältig ist das Werk von Gerhard Richter. Die Bild-Zeitung betitelte ihn daher mal nicht ganz zu Unrecht als „genialen Alleskönner der modernen Kunst“. Das Handelsblatt bezeichnete ihn jüngst als den „Meister, der permanent seinen Stil wechselt“. Sein Werkverzeichnis beginnt mit dem Gemälde Tisch [WVZ: 1; 1962] aus dem Jahr 1962. Im selben Jahr fängt er an Fotos abzumalen: 1965 malt Richter seinen Onkel Rudi [WVZ: 85; 1965], der 1944 im Krieg gefallen war, sowie seine Tante Marianne [WVZ: 87; 1965], die 1945 Opfer des Euthanasieprogramms der Nazis wurde. Im Jahr 1966 malt er seine damalige Frau Ema (Akt auf einer Treppe) [WVZ: 134; 1966].
1967 malt Richter Wellbleche, Röhren und Türen sowie pornografische Foto-Bilder und schafft eine erste Glaskonstruktion. Im darauffolgenden Jahr beginnt Richter damit, zunehmend Stadtbilder (wie Stadtbild Madrid [WVZ: 171; 1968] oder Domplatz, Mailand [WVZ: 169; 1968]), zu malen. Letzteres erzielt 2013 in New York einen Rekordpreis von 37 Millionen US-Dollar. Neben Stadtbildern beginnt Richter auch Seestücke (wie Seestück (Gegenlicht) [WVZ: 233; 1969]) und Landschaften (wie Himalaja [WVZ: 181; 1968]) zu malen. Sein Ölgemälde Eisberg [WVZ 496-2; 1982] wird 2017 in London für umgerechnet mehr als 21 Millionen Euro versteigert.
Später malt Richter auch Porträts, beispielsweise von seiner 1966 geborenen Tochter Betty (Betty [WVZ: 425/4-5; 1977] und Betty [WVZ: 663-5; 1988]) oder seiner dritten Frau Sabine, mit der er seit 1995 verheiratet ist und drei Kinder hat (wie Lesende [WVZ: 799-1 und 804; 1994]). Berühmt sind auch Richters Kerzenbilder (wie Kerze, WVZ: 511-3; 1982). Richter beschäftigt sich auch mit historischen Ereignissen wie dem „Heißen Herbst“ (18. Oktober 1977 [WVZ: 667-674; 1988]), dem 11. September (September [WVZ: 891-5; 2005]) oder dem Holocaust (Birkenau [WVZ 937/1-4; 2014]).
Bereits Ende der 70er Jahre beginnt Richter mit abstrakten Gemälden, die heute zu seinen teuersten Werken zählen. Sein Abstraktes Bild [WVZ: 599; 1986] kommt beispielsweise im Februar 2015 bei Sotheby´s in London für umgerechnet 46 Millionen US-Dollar unter den Hammer.
Zu Richters bekanntesten Werken zählt ein in der ehemaligen Münsteraner Dominikanerkirche installiertes Foucaultsches Pendel, das der Künstler im Juni 2018 der Stadt Münster schenkte. Das Pendel wurde zu einem wahren Publikumsmagneten und zog im ersten Jahr 300.000 Besucher an.
Richter-Fenster in Köln
Richter wohnt seit 1983 in Köln, seit 1996 kreiert er seine Werke in seinem Atelier im Stadtteil Hahnwald. Im Jahr 2007 wurde ihm die Ehrenbürgerwürde verliehen. Im selben Jahr schenkte Richter seiner Wahlheimat sein bekanntestes Werk: das Südquerhausfenster des Kölner Doms, der jährlich von mehr als sechs Millionen Menschen besucht wird.

Zum Kölner Richter-Fenster wurde der Künstler durch sein 4096-Farben-Bild [WVZ: 359; 1974] inspiriert. Das „Pixel-Fenster“ besteht aus rund 11.000 Farbquadraten in 72 Farben (den Farben, aus denen die übrigen Domfenster bestehen), die größtenteils nach dem Zufallsprinzip angeordnet wurden. Kritiker – der prominenteste war der damalige Kölner Erzbischof Kardinal Meisner – bemängeln, dass das abstrakte Fenster, das auch keinen direkten christlichen Inhalt besitze, nicht in eine gotische Kathedrale passe. Andere – wie die damalige Kölner Dombaumeisterin Schock-Werner – sind hingegen vom Spiel der Farben begeistert: „Es leuchtet ja auch, wenn es draußen trüb ist [und im] Nebel des Weihrauchs bilden sich farbige Strahlen. Das hat einen fantastischen Effekt.“
Tholeyer Richter-Fenster
Im Jahr 2020 kreierte Richter – ein konfessionsloser Bewunderer der katholischen Kirche – ein zweites Mal Fenster für einen Sakralbau: dieses Mal für die Abteikirche Tholey. Als Vorlage für die Tholeyer Richter-Fenster diente ein abstraktes Bild Richters aus dem Jahr 1990 mit der Werkverzeichnis-Nummer 724-4. Für sein Buch „Patterns“ (Muster) teilte Richter dieses Bild in Streifen, die er dann spiegelte und vervielfachte. Aus den so gewonnenen „Patterns“ entnahm Richter die Muster für die Tholeyer Hauptchor-Fenster.

Laut eigener Aussage sind die Fenster mit der Werkverzeichnisnummer 957 sein letztes großes Werk. Die Fenster wurden innerhalb kürzester Zeit zu einem Besuchermagneten. Trotz Lockdowns und mehrmonatiger Corona-Einschränkungen sollen im ersten Jahr mehr als 100.000 Menschen in die Abteikirche gekommen sein. Der Meister selbst gehörte – soweit man weiß – noch nicht zu den Besuchern. Vor einem guten Jahr äußerte Richter, dass auch er sich die Fenster in der Abteikirche eines Tages anschauen wolle, wenn es gesundheitlich klappe. Zu seinem Geburtstag ist dem bescheidenen Ausnahmekünstler die Erfüllung dieses Vorhabens zu wünschen.
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