Ein Interview mit Miriam A. „Mein größter Feind, die Ess-Sucht“

Die Binge- Eating-Störung gehört, neben der Ess-Brech- Sucht Bulimie und der Magersucht zu den häufigsten Essstörungen. Laut IKK Südwest müssen, auch im Saarland, immer mehr Menschen aufgrund von gestörtem Essverhalten ärztlich behandelt werden.
Die 26- jährige Studentin Miriam A. aus Freisen spricht offen über ihre langjährige Essstörung.

Miriam, kannst du uns kurz erläutern, was eine Binge- Eating- Störung ist?
Binge Eating bedeutet „Fressgelage“. Im Gegensatz zu Bulimie, erbrechen Binge- Eater nicht und unternehmen auch keine sonstigen, gewichtsreduzierenden Maßnahmen. Man leidet unter häufigen, unkontrollierten Essanfällen. Dadurch, dass man hauptsächlich ungesund, stark zuckerhaltig und fettig isst, entsteht Übergewicht. Man schämt sich für dieses maßlose Essverhalten und fühlt sich hilflos ausgeliefert. Außerdem hat man das Gefühl, das übermäßige Essen zu brauchen, damit man sich (kurzfristig) besser fühlt. Nach den Heißhungerattacken hat man gute Vorsätze und möchte keinesfalls, dass sich diese noch einmal wiederholen, aber letztendlich verliert man immer wieder schnell die Kontrolle. Man ist danach wütend auf sich selbst, traurig und frustriert. Der Appetit lässt erst verzögert nach und man kann zwischen Hunger- und Sättigungsgefühl nicht mehr richtig differenzieren. Äußere Reize, wie etwa die Uhrzeit oder das Aussehen der Nahrung geben eher Anlass zu essen, als das körpereigene Hungergefühl. Diagnostisch gesehen muss man die Kriterien seit mindestens 6 Monaten und Minimum 2 Mal wöchentlich erfüllen.“

Wie ist es dazu gekommen, dass du ein gestörtes Essverhalten entwickelt hast?
Seit ich 4 Jahre alt bin, esse ich unnormal und ungesund. Ich weigerte mich damals weiter den Kindergarten zu besuchen, da ich dort sehr prägende und traumatische Erlebnisse hatte. Von da an blieb ich zu Hause und wurde morgens von meinen Großeltern beaufsichtigt. Meine Großmutter hat bereits in meinen frühen Kindheitsjahren immer für mich gekocht. Schon am frühen Morgen gab es üppige Speisen, wie Bratkartoffeln mit Spiegelei oder Nudelgerichte. Meine Großmutter meinte es, wie Oma´s so sind, nur gut, aber rückblickend betrachtet war das wohl der Grundstein meiner Essstörung. Alles andere als gesund, weder für einen Erwachsenen und noch viel weniger für ein so kleines Kind. Ich war ein relativ introvertiertes Mädchen und hatte wenig Kontakte zu Gleichaltrigen, da ich den Kindergarten ja nicht mehr besuchte.
In meiner Grundschulzeit wurde das besser, aber ich war immer ein Außenseiter und wurde aufgrund meines Übergewichts oft gehänselt und beleidigt. Ich erinnere mich, dass ich oft so tat, als sei ich krank um nicht in die Schule zu müssen und zu Hause bei meinen Großeltern bleiben zu dürfen. Ich zog mich oft zurück, schaute alleine Fernsehen und aß.


Auf dem Gymnasium entwickelte sich das Ganze ähnlich. Weil ich als einziges Mädchen schon körperlich weiterentwickelt und zu dem pummelig war, war ich der perfekte Fußabtreter. Ich nahm schnell eine Opferrolle ein und traute mich nicht mich zu verteidigen. Den Sportunterricht versuchte ich so oft es nur ging zu vermeiden, da ich mich zu sehr davor schämte mich ausziehen zu müssen. Von schmerzhaften Beleidigungen wie „fette, hässliche Kuh“, über sehr heftige Drohbriefe, bis hin zu tätlichen Angriffen, ließ ich mir alles Mögliche gefallen. Ich war das perfekte Mobbingopfer. Ich war so verletzt, so ängstlich und traurig, ich wusste damals nicht was ich tun sollte.
Kinder und Jugendliche können sehr unfair sein. Sie denken jetzt vielleicht „Stell dich nicht so an, du hättest dich (einfach) nur wehren müssen“, damit haben Sie vielleicht auch Recht, aber so lief es nun mal nicht, ich kann die Zeit nicht mehr zurückdrehen.
Häufig schloss ich mich in den Pausen in der Toilette ein, damit niemand sehen konnte, dass ich alleine war. Ich war einfach nur froh, wenn ich mittags endlich zu Hause war oder ich erst gar nicht in die Schule musste. Zeitweise litten auch meine Schulnoten unter dem Dauerstress und somit zog ich auch den einen oder anderen Unmut eines Lehrers auf mich. Mein Krisenmanagement bestand auch in dieser Zeit immer wieder darin mich zurückzuziehen und alleine zu essen. Mein damaliges Tageshighlight, war das Mittag- und Abendessen, darauf freute ich mich schon morgens.
Meine heute getrennt lebenden Eltern, waren immer für mich da und unterstützten mich darin, die Angelegenheiten, von denen sie wussten anzugehen, aber bei vielen Dingen konnten sie mir gar nicht helfen, weil sie einfach nichts davon wussten.
Mit 11 Jahren begann ich mit den ersten Diäten, bis hin zur kompletten Essensverweigerung. Mit 14 Jahren intensivierte ich mein ungesundes Essverhalten. Unabhängig davon, dass ich mich damals noch nicht ansatzweise mit gesunder Ernährung auskannte, hielt ich das Ganze natürlich nicht lange durch und so bekam ich immer wieder Heißhungerattacken und „Fressanfälle“, bei denen ich innerhalb kürzester Zeit Unmengen von Nahrung in mich hineinstopfte. Das Ganze ging jahrelang so und mein Gewicht stieg. Meine genetische Veranlagung begünstigte mich nicht und mein ungesundes Essverhalten noch weniger. In unserer Familie neigen alle zu Übergewicht, auch meine Mutter und meine beiden Schwestern. Im Alter von 17 Jahren wog ich circa 30 Kilogramm zu viel.
Dass ich mein Leben neu strukturierte hing mit meinem ersten festen Freund zusammen. Er war der erste junge Mann, der mir das Gefühl gab so okay zu sein, wie ich war. Hübsch und liebenswert zu sein, trotz einigen Pfunden zu viel auf der Hüfte. Das stärkte mich und gab mir Selbstbewusstsein. Schlagartig löste sich dieses Konstrukt auf, als sich rausstellte, dass er mich betrog und mir dann auch gestand, dass er mich in Wahrheit doch zu dick fand und er sich gewünscht hätte, dass ich mehr wie seine gute Freundin Y ausgesehen oder die tolle Figur seiner Bekannten X gehabt hätte. Das erschütterte und verletzte mich so sehr, dass ich 
mein Leben neu ordnete. Ich hatte es satt immer diejenige zu sein, auf der jeder rumhackt. Schon seit ich ein kleines Mädchen war, wollte ich immer anders sein und anders aussehen. Mit zunehmendem Alter wurde der Wunsch so schön und so schlank wie andere zu sein, immer intensiver. Ich wollte nun endlich auch mal wissen, wie es sich anfühlt bewundert zu werden und positive Aufmerksamkeit zu bekommen.“

Wie sah diese Neustrukturierung aus?
„ Ich begann damit mich mit gesunder Ernährung zu beschäftigen, meldete mich im Fitnessstudio an und nach einer Weile auch in Abnehm-Kursen an, um fundamentale Kenntnisse in diesem Bereich zu erlangen. Ich wollte mich endlich mal wohlfühlen und unbeschwert sein. Mal einen Minirock, ein kurzes Kleid oder einen Bikini tragen können, ohne mich zu schämen. Sowas traute ich mich ja noch nie.
Es gibt so viele Frauen, die einfach essen können, was sie möchten, schlank bleiben
, eine Spitzenfigur haben und ganz normal am Leben teilhaben können. Leider kenne ich viele Frauen, die das gar nicht zu schätzen wissen, da es für sie einfach normal ist. Natürlich gibt es viel schlimmere Probleme und natürlich kann man froh sein, wenn man beispielsweise keine schwere, lebensbedrohliche Erkrankung hat, aber trotzdem schmälert das meinen persönlichen Leidensdruck nicht.
Das Leben in all seiner Schönheit genießen können, ohne sich speziell im Sommer zu Hause zu verkriechen, weil man sich so extrem unwohl fühlt. Mal ausgehen, ohne immer nur nach dem Aussehen, der Figur und der Schönheit anderer Frauen zu gucken und sich zu vergleichen. Das wollte ich auch mal haben. Endlich nahm ich mein Leben in die Hand und veränderte etwas. Von da an trieb ich regelmäßig Sport und erweiterte meine Grundkenntnisse in den Bereichen Ernährung und Fitness. Mit jedem Kilo, das ich abnahm, fühlte ich mich wohler und selbstbewusster. Schlagartig bekam ich Komplimente und Aufmerksamkeit, von Männern, wie von Frauen. Das war alles vollkommen neu und aufregend, aber gleichzeitig musste ich auch feststellen, wie oberflächlich die Menschen sind und das wiederum ist eigentlich traurig. Naja, mir half das Abnehmen mich zu verändern, denn ich änderte nicht nur mein Äußeres komplett, ich wurde auch innerlich deutlich stärker, konnte ganz anders durchs Leben gehen und das Leben genießen. Ich konnte auf Menschen zugehen, ich war nicht mehr so schüchtern, traute mich zu meiner Meinung zu stehen und hatte deutlich mehr Selbstvertrauen. Auf einmal wusste ich, wie es sich anfühlte glücklich zu sein.“

Wie kam es dazu, dass deine Essstörung wieder dein Leben einnahm?
„ Die sportliche Betätigung und das gesunde Essverhalten taten meinem Körper und meiner Psyche sehr gut. Aber nach einem längerem Zeitraum wurde ich zu ehrgeizig und letztendlich auch zu verbissen. Über einen gewissen Zeitraum ging ich 2 Mal täglich ins Fitnessstudio und ließ dafür sogar die Vorbereitung für das Abitur sausen. Ich wollte immer dünner werden und schließlich begann ich auch ernährungsmäßig auf immer mehr zu verzichten. Ich werde nie vergessen, wie ich in einem dieser Abnehm-Kurse regelrecht gedrillt wurde. Der Kursleiter sagte immerzu „Zucker ist der Feind. Er macht uns hässlich, dick, unglücklich und krank.“ Diese krassen Worte nahm ich mir zu sehr zu Herzen. Das war kontraproduktiv, denn meistens ist das, was im Übermaß geschieht ungesund.
Ich fühlte mich überlegen und stark, wenn ich es schaffte mal wieder der Versuchung zu widerstehen und als einzige am Tisch zu sitzen und eben keine Kalorienbomben zu verspeisen. Das ging so lange bis ich irgendwann nur noch 42 Kilogramm wog und mich selbst da noch zu dick fand. Irgendwann war klar, dass ich dieses ständige Kasteien und den Verzicht nicht ewig durchhalten würde, so wendete sich das Blatt und ich bekam nach und nach immer mehr Fressanfälle, während derer ich mich regelrecht vollstopfte bis ich ein sehr unangenehmes Völlegefühl hatte und mich im Nachhinein sehr schlecht und schuldig fühlte. Dann wechselten sich Essattacken und radikale Abmagerungsmaßnahmen immer wieder ab. Mein Gewicht ging dadurch buchstäblich Auf und Ab. Durch den Abiturstress lag ich meine weiteren Diätpläne auf Eis. Nach dem Abitur stand ich nun da, wieder 25 Kilo schwerer. Ich war planlos, da sich meine Zukunftspläne in Hamburg leider von jetzt auf gleich zerschlagen hatten. Das Studium, das mir danach von meiner Familie ans Herz gelegt wurde, begann und ich merkte relativ zeitnah, dass dieser Beruf nicht ansatzweise das Richtige für mich sein würde, dennoch wollte ich nicht aufgeben und es weiterversuchen. Ich zog mich immer mehr zurück, isolierte mich und aß viel. Ich versuchte immer wieder, auch neben dem Studium, Sport zu treiben und mein Diätprogramm durchzuziehen, aber ich knickte immer wieder ein. Es war wie eine Achterbahnfahrt, es ging immer schnell auf und schnell ab. Ein paar Kilogramm rauf, ein paar Kilo runter. Immer noch „gefangen“ in diesem Studium wurde ich unglücklicher und unglücklicher und somit aß und aß ich immer mehr, um mich abzulenken und wenigstens kurzfristig glücklich zu sein. Essen war und ist meine Kompensation, mein Genuss, meine Freude, mein Emotionsregulation und letztlich auch meine Sucht und mein Feind.


Irgendwann sah ich ein, dass mein Leben in dieser Form nicht weitergehen konnte. Mittlerweile hatte ich zusätzlich nochmal 10Kilogramm zugenommen, ging nur noch zu den verpflichtenden Veranstaltungen an der Uni und pflegte nahezu keine sozialen Kontakte mehr. Was sollte ich jetzt tun? Wie sollte das weitergehen und was sollte ich mit meinem Leben anfangen? Ich wusste es nicht und genau das frustrierte mich immer und immer mehr, denn mein eigentlicher, beruflicher Traum ließ sich nach, wie vor nicht mehr realisieren. Schließlich öffnete ich mich meinem engsten Familien- und Freundeskreis und entschied mich in beruflicher Hinsicht einen anderen Weg einzuschlagen. Das neue Studium war auch nicht gerade mein Traum, aber mit dem Abschluss hatte ich gute Zukunftschancen. Es war eine Vernunftsentscheidung, keine Herzensangelegenheit. Mittlerweile hatte ich nun insgesamt weit über 40 Kilogramm zugenommen. Naja, irgendwie musste ich ja weitermachen, endlich Abstand von meinem ursprünglichen Berufstraum nehmen und mir eine solide, berufliche und finanzielle Lebensgrundlage schaffen. Es war klar: „Das Ding muss sitzen.“ Dieses „Ersatzstudium“ musste ich durchziehen, ob es mir nun Freude bereitete oder nicht. Jetzt gab es kein Zurück mehr.
Unter diesem Druck, zusammen mit dem Verlust zweier geliebter Menschen und anderen stürmischen Lebensereignissen, wurde meine Essstörung Stück für Stück noch stärker, denn ich war ja dauerhaft unglücklich. Vor Beginn des Studiums schaffte ich es unter anderem mit Weight Watchers 10 Kilogramm abzunehmen. Wenige Monate nach Beginn des Studiums hatte ich die gerade frisch abgenommenen 10 Kilogramm wieder zugenommen. Warum konnte ich nie dauerhaft genügend Disziplin aufbringen einfach mal normal zu sein, normal zu essen? Ich denke, weil einfach, eben nicht einfach ist. Sagen Sie mal einem langjährigen Alkoholiker er solle einfach mal aufhören zu trinken oder einem Junkie er solle einfach mal auf den nächsten Trip verzichten? Das klappt nicht einfach so von jetzt auf gleich. Nachgeben ist menschlich, aber belastend.
Nach den ersten zwei Semestern entschloss ich mich mein Studium für ein Semester zu unterbrechen und fachmännische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Ich begab mich für einige Monate stationär in eine Klinik für Essstörungen, das half mir enorm. Ich lernte mich selbst nicht mehr so sehr unter Druck zu setzen, dem Essen weniger Bedeutung beizumessen und ein gesundes Maß an Genuss zu finden. Ich erfreute mich wieder an Sport und lernte viele wichtige Menschen kennen, die mich verstehen konnten. Diese Therapiemaßnahme war sehr hilfreich und unterstützend, aber man muss sich darüber im Klaren sein, dass man in einer Klinik unter einer Art Käseglocke lebt. Man wird jeden Tag gepuscht, gefördert und unterstützt, aber wenn man entlassen wird, muss man das alleine schaffen oder weiterhin ambulante Hilfe in Anspruch nehmen.
Die 20 Kilogramm, die ich während meines Klinikaufenthaltes abgenommen hatte, nahm ich erfreulicherweise in die nächsten beiden Jahren auch nicht mehr zu. Bis auf wenige Kilos schwankte mein Gewicht nur geringfügig. Eines Tages, als ich eine sehr hübsche, schlanke Professorin so ansah, kam in mir wieder der Wunsch und der Wille hoch noch weiter abzunehmen, denn ich fühlte mich zwar etwas wohler, aber ich war trotzdem noch nicht an meinem Ziel angelangt.
Ich wollte wieder unbeschwerter am Leben teilnehmen können, also fuhr ich wieder mein Sport- und Abnehm- Programm und hatte diesmal auch wieder Erfolg damit. Innerhalb von wenigen Monaten nahm ich nochmal 20 Kilogramm ab. Diesmal verzichtete ich erstmalig Monate lang komplett auf alles, was sehr zucker- oder fetthaltig war, denn der Umgang speziell mit diesen Nahrungsmitteln, fiel mir am schwersten. Nach dieser Zeit aß ich diese Dinge nur mit Genuss und nicht all zu oft. 3 bis 4 Mal wöchentliche sportliche Betätigung machte mir wieder richtig Spaß. So konnte ich nach einigen Jahren, endlich wieder in den Spiegel sehen, wieder aufleben, endlich wieder schöne, weibliche Klamotten tragen und den Sommer wieder mehr genießen.“

Hast du deine Essstörung seit diesem Zeitpunkt im Griff?
„Ich wünschte ich könnte diese Frage mit Ja beantworten, aber dem ist nicht so.
Circa 18 Monate schwankte mein damaliges Gewicht zwischen 2 bis 3 Kilogramm mehr oder weniger. Immer wenn ich aus meinem normalen und gesunden Fitness- und Ernährungsrhytmus rauskam, entstanden diese Schwierigkeiten. Das heißt in Fällen von Krankheit, im Urlaub oder wenn ich zu Geburtstagen oder sonstigen Feiern mit üppigen Buffets eingeladen war, geriet ich schnell wieder in alte Verhaltensweisen und in den alten Essentrott. Da schaffte ich es nicht immer zu widerstehen und manchmal dauerte es wieder Tage bis Wochen bis ich dem ungesunden Lebensstil wieder abschwören konnte.
Innerhalb von 15 Monaten habe ich letztlich wieder über 10 Kilogramm zugenommen. Ich muss es mir eingestehen, ich kann mein Essverhalten, was insbesondere ungesunde Nahrung angeht, offensichtlich nicht dosieren. Ich kann nicht nur ein Stück Schokolade essen, ich möchte die ganze Tafel essen. Ich kann nicht nur ein Stück Pizza essen, ich würde am liebsten jeden Tag Pizza essen. Ich schäme mich, dass ich in der Vergangenheit so oft so schwach war und ich möchte endlich versuchen rauszufinden, was der richtige Weg für mich ist, denn ich bin so langsam ratlos. Ein Alkoholiker wird wohl sein Leben lang rückfallgefährdet sein und ihm wird geraten selbst auf ein kleines Mon Chérie, also selbst auf kleinste Menge des Suchtmittels zu verzichten. Ich glaube so langsam, dass es bei mir ähnlich ist. Wenn ich Dinge esse, die beispielsweise stark zuckerhaltig sind, dann reagiere ich darauf. Ich bin glücklich, wenn ich das Stück Kuchen esse und werde fuchsteufelswild, wenn jemand versucht, mir etwas zu verbieten oder mich essensmäßig zu bevormunden. Ich weiß noch als ich letztes Jahr wieder einmal versuchte abzunehmen und gesünder zu leben. Die ersten Tage fühlten sich an wie die Hölle, ich war sehr, sehr launisch, traurig und aggressiv zugleich. Ich weinte viel und wollte einfach nicht auf verschiedene Sachen verzichten müssen. Ich wollte das nicht weggenommen bekommen. Das ist immer wieder eine große Belastung, da das Essen einen viel zu großen Platz in meinem Leben eingenommen hat und das seit ich denken kann. Grübeln über die Figur, die Schönheit von anderen und darüber, ob ich es nun schaffe mich wieder wohl zu fühlen. Es ist so unendlich unangenehm und schambesetzt an die Uni oder zum Nebenjob anzutreten, wenn man nur noch ein paar passende Klamotten hat und man sich so unwohl fühlt. Im Sommer in langer Kleidung abschwitzen, damit niemand das sehen kann, was mich so unglücklich macht, das ist einfach unendlich belastend für mich. Ich bin froh, dass ich es schaffe normal zu studieren und meinen Aushilfsjob durchzuziehen, denn im privaten Bereich meide ich soziale Kontakte weitestgehend. Nicht, weil ich nichts mit meinen Freunden unternehmen möchte, sondern einfach, weil ich mich zu sehr schäme. Ich scheue den Gedanken, dass mich „draußen“ Menschen wiedersehen, die ich schon lange nicht mehr gesehen habe und diese dann erschrecken, mich verurteilen und über mich lästern. Mit guten, attraktiven Freundinnen einfach Spaß haben und keine Treffen vermeiden, weil man sich diesen gegenüber so minderwertig fühlt, so sollte es eigentlich sein. Ich möchte mich nicht ständig nur schämen, das habe ich schon an der Uni und bei der Arbeit, das möchte ich nicht noch privat erleben müssen, deshalb lebte ich bis vor kurzem eher isoliert.“

Du sagest gerade bis vor kurzem? Hat sich denn vor kurzem etwas bei dir geändert?
„ Ja. Ich habe lange darauf gewartet, dass sich in mir etwas verändert. Ich hatte die ganze Zeit nicht die Kraft mich dieser für mich schweren Aufgabe zu widmen und mein Essverhalten zu ändern. Doch vor kurzem, hatte ich das Gefühl, dass sich der Schalter endlich umgelegt hat.
Ich möchte die Dinge, aus meinem Leben verbannen, die mir nicht gut tun. Ich möchte einfach, normal leben. In meinem Kopf ist gesundes Essen mit etwas sehr Negativem, sogar mit Bestrafung und ungesunde Nahrung mit glücklich sein gekoppelt. Dass das eben gerade umgekehrt ist, muss ich erst mal verinnerlichen. Unmengen von ungesundem Essen, brauche ich nicht. Ich möchte keinen Verzicht leben, um mich zu bestrafen. Ich möchte einfach stärker als meine Sucht sein und reifen. Jedes Mal, wenn ich von meinen Suchtmitteln, sprich vor allem von Süßigkeiten und Fast Food umgeben bin, dann sage ich mir innerlich „Stopp, du brauchst das nicht. Das ist kein Teil deines Lebens mehr, das tut dir nicht gut. Du schaffst das! Du bist stärker, als das! “ Ich versuche vorausschauend an den nächsten Sommer und daran zu denken, dass ich das Leben bis dahin wieder genießen möchte. Einer meiner größten Träume wäre es mich im Bikini zeigen zu können und dabei nicht unwohl zu fühlen. Ich hoffe, ich schaffe das.“

Hast du einen festen Partner? Kam es, bedingt durch deine Essstörung, schon öfter zu Beziehungsproblemen?
„ Nein, aktuell nicht. Die Beziehung mit meinem Ex-Freund ist mehr oder weniger daran gescheitert. Er hat mich noch in meinen schlanken Zeiten kennengelernt und war mit meiner Veränderung sehr unzufrieden. Machen wir uns nichts vor, welchem Mann gefällt es schon, wenn seine Freundin stark zunimmt? Er gehörte, laut eigener Aussage, definitiv zu den Männern, die nicht auf kräftige oder dicke Frauen stehen und das auch offen und ehrlich bekundeten. Das erschwerte unsere Situation maßgeblich. Zeitweise setzte er mich stark unter Druck. Schon nach den ersten 3 bis 4 Kilo mehr auf der Waage, forderte er mich immer wieder auf, auf meine Ernährung zu achten, Sport zu treiben und wieder abzunehmen. Eine Zeit lang wurde ich ständig gefragt, was ich gegessen hätte und wieviel ich wiegen würde. Jede Forderung seinerseits machte mich sehr wütend, häufig reagierte ich trotzig und aß gerade dann erst Recht Unmengen von ungesundem Zeug. Ich kaufte mir beispielsweise zig verschiedene Sorten an Süßigkeiten, aß diese heimlich und versteckte sie anschließend. Mein Freund gab mir regelmäßig zu verstehen, mal ruhig und besorgt, mal wütend, genervt oder auch verletzend, dass er sich wieder die schlanke Miriam wünsche, die sich hübsch macht, schön und weiblich anzieht und vor allem aktiv mit ihm am Leben teilnimmt und gemeinsame Unternehmungen macht. In unserem letzten Beziehungsjahr traten zu häufig Konflikte wegen meines Rückzugs vom sozialen Leben und der never ending story mit dem Namen „Essen“ auf. Diese Fehler möchte ich nie wieder machen.“

Was ist dein größter Wunsch?
„Letztlich liegt es an mir etwas zu ändern, deshalb wünsche ich mir nichts mehr als stark zu bleiben. Aber, wenn ich zurück auf das letzte Jahrzehnt schaue, frage ich mich manchmal warum ich wieder so viel Kraft und Zeit in etwas stecken soll, was ich auf Dauer erfahrungsgemäß doch nicht durchhalten kann?
Wenn ich erst mal meine Routine gefunden habe, dann klappt alles, dann ist es mir sogar meistens eine echte Freude gewesen viel Sport zu treiben, bewusst einkaufen zu gehen und Zeit dafür aufzuwenden frische, kalorienarme und gesunde Gerichte zuzubereiten, aber auf Dauer konnte ich diese Lebensart nicht fortführen. In veränderten und insbesondere schwierigen Zeiten, reichte schon ein einziges Stück Pizza oder Schokolade aus, um wieder im alten, negativen und kranken Essverhalten zu sein.
Es kann sein, dass meine Geschichte auf den ein oder anderen jammervoll oder vielleicht sogar lächerlich und überflüssig wirkt, aber manche Menschen sollten akzeptieren können, dass nicht jeder Mensch gleich gestrickt ist und jede Person anders mit Lebenssituationen umgeht. Jeder Mensch hat Schwächen, das Essen ist meine.
Letztlich habe ich tief in meinem Innern eingesehen, dass man mein Leben gar nicht mehr „Leben“ nennen konnte. Mein Dasein wurde täglich von der Sucht bestimmt, ich konnte keine alltäglichen, schönen Dinge

mehr tun, die das Leben erst lebenswert machen. Ich wünsche mir, dass Essen irgendwann eine untergeordnete Rolle in meinem Leben spielt.
Schlussendlich möchte ich mich für mich ändern, damit ich endlich wieder mehr Lebensqualität habe. Glücklich sein ist eine Entscheidung und mein Weg, den ich nun gehen werde.“

„ Die Waage sagt aus, wieviel du wiegst und nicht, wieviel du wert bist.“ [lebenshungrig.de]

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