Das Deutsche Kaiserreich entstand erst 1871, verglichen mit anderen europäischen Nationalstaaten also relativ spät. Mit großer Ehrgeizigkeit und wenig Rücksicht stieg das Reich nun auch ins internationale „Rennen“ ein, bei dem europäische Mächte Kolonien weltweit beanspruchten. Deutschland setzte sich zum Ziel, „unbesiedelte“ Gebiete für die eigene Bevölkerung zu sichern, Rohstoffe auszubeuten und seinen Einfluss in Übersee auszuweiten.
Wie kamen die Deutschen zu Kolonien?
Der Weg zu Kolonien war oft simpel und gnadenlos: Unternehmer wie der Bremer Kaufmann Adolf Lüderitz kauften in Afrika Land und nutzten jeden Trick, um es günstig zu erwerben. So war es oft unklar, ob bei den Landverkäufen deutsche oder englische Meilen als Maßstab galten. Der Unterschied ist erheblich – eine deutsche Meile misst etwa 7.500 Meter, eine englische dagegen nur rund 1.600 Meter. Solche Methoden führten dazu, dass die Einheimischen weit mehr Land verloren, als sie ahnten.
Diese Gebiete „ersuchten“ anschließend um den Schutz des deutschen Kaiserreichs. Unter Druck der Kaufleute schickte das Reich Kriegsschiffe und Soldaten nach Afrika, hisste die deutsche Flagge und erklärte das Land zu deutschem „Schutzgebiet“. So entstand etwa „Deutsch-Südwestafrika“, das heutige Namibia, und die Besitznahme zeigte sich in umbenannten Orten und Landstrichen. Der Kilimandscharo beispielsweise wurde als „Kaiser-Wilhelm-Spitze“ neu benannt.
Deutschlands Kolonien in Afrika und Asien
Von 1880 bis 1900 eignete sich das Deutsche Reich Kolonien rund um den Globus an. Die bekanntesten Kolonien befanden sich in Afrika: Togo, Kamerun, das heutige Namibia als Deutsch-Südwestafrika und Deutsch-Ostafrika, das die heutigen Länder Tansania, Burundi und Ruanda umfasste. Auch im Pazifik war Deutschland aktiv und besetzte Samoa, die Marshallinseln, Nauru, Palau und einen Teil von Neuguinea. Selbst in China beanspruchte das Reich Kolonien – etwa die Hafenstadt Qingdao, die es auf 99 Jahre pachtete.
In diesen Kolonien lebten um 1900 rund 12 Millionen Menschen, die vom Deutschen Reich als „Schutzbefohlene“ bezeichnet wurden. Die weißen Kolonisten hingegen zählten nur einige Tausend.
Die wirtschaftliche Ausbeutung der Kolonien
Deutschland betrachtete die Kolonien als Rohstofflieferanten und Absatzmärkte. So importierten deutsche Kaufleute billige landwirtschaftliche Produkte oder verkauften deutsche Waren wie Alkohol, etwa durch den Händler Adolf Woermann in Kamerun. Die Argumente waren oft zynisch: Wer keinen Alkohol verkaufe, gefährde deutsche Arbeitsplätze in der Brauereibranche.
Besonders heftig sind die „Opiumkriege“, bei denen Großbritannien durchsetzte, dass in britischen Kolonien hergestelltes Opium in China verkauft werden durfte, was Millionen Menschen süchtig machte. Die deutschen Kolonialherren beuteten die Menschen vor Ort oft zu niedrigsten Löhnen aus und enteigneten sie systematisch. Ganze Gesellschaften wurden umstrukturiert, was das Leben der Einheimischen radikal veränderte. Ein profitables Geschäft für das Deutsche Reich war es dennoch nicht: Die Kolonien erwiesen sich wirtschaftlich als Verlustgeschäft, da die Verwaltung und Infrastruktur (insbesondere Eisenbahnen) hohe Kosten verursachten.
„Zivilisierungsmission“ und Missionierung
Neben der wirtschaftlichen Ausbeutung diente die Kolonialpolitik auch einer sogenannten „Zivilisierungsmission“. Die Kolonialmächte, darunter auch Deutschland, glaubten, den „unzivilisierten Wilden“ Kultur und christlichen Glauben bringen zu müssen. Missionare sahen in Afrika die Erfüllung eines Traums und strebten danach, christliche Gemeinschaften aufzubauen. Dabei wurde die traditionelle Lebensweise der Einheimischen durch den Kolonialismus größtenteils zerstört. Die Missionen waren auch politische Werkzeuge, um den deutschen Einfluss subtil, aber nachhaltig zu verankern.
Die Schulbildung, die Missionare in die Kolonien brachten, erreichte jedoch nur eine Minderheit der Kinder. Auch medizinische Stationen richteten die Deutschen vor Ort ein – jedoch in erster Linie für die weißen Kolonisten und weniger für die einheimische Bevölkerung.
Brutale Unterdrückung und Genozid in den Kolonien
Mit der Übernahme durch Deutschland begann die systematische Unterdrückung der lokalen Bevölkerung. Ein Beispiel ist der Genozid an den Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika (1904–1908). Nach dem Diebstahl ihres Landes und dem wirtschaftlichen Niedergang ihrer Gemeinschaften erhoben sich die Herero unter Anführer Samuel Maharero gegen die deutschen Besatzer. Sie plünderten deutsche Siedlungen und Farmen, verschonten dabei jedoch meist Frauen und Kinder. Die deutsche Antwort war grausam und unerbittlich: General Lothar von Trotha gab den Vernichtungsbefehl, auf alle Herero – Männer, Frauen und Kinder – zu schießen, sobald sie sich den deutschen Stellungen näherten. Dieser Befehl führte dazu, dass Tausende in der Wüste verdursteten oder verhungerten. Historiker bezeichnen dieses Massaker heute als ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts.
Widerstand in Deutsch-Ostafrika und der Maji-Maji-Aufstand
Auch in Deutsch-Ostafrika kam es zu einem großen Aufstand: Der Maji-Maji-Krieg (1905–1907) war eine Rebellion gegen die deutschen Kolonialherren, die Baumwollplantagen zwangsweise von der einheimischen Bevölkerung bewirtschaften ließen. Getrieben von einem spirituellen Widerstandsgeist, dem sogenannten Maji-Maji-Kult, führten die einheimischen Gruppen einen Guerillakrieg gegen die Deutschen. Diese reagierten mit einer „verbrannten Erde“-Taktik und zerstörten Dörfer, Felder und Nahrungsvorräte. Die Folge war eine Hungersnot, bei der geschätzte 300.000 Menschen starben.
Kolonialismus und seine Auswirkung auf die deutsche Erinnerungskultur
Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs 1918 verlor Deutschland all seine Kolonien. Die deutsche Kolonialherrschaft war im Vergleich zu anderen europäischen Mächten nur von kurzer Dauer, und dieser Umstand führte dazu, dass das Thema Kolonialismus in Deutschland oft verdrängt wurde. Lange galt der Gedanke: „Wir waren nicht so schlimm wie die anderen.“
In den letzten Jahren hat sich die Diskussion um die Kolonialzeit jedoch intensiviert. Besonders der sogenannte „Historikerstreit 2.0“ bezieht den Kolonialismus nun stärker in die Erinnerungskultur ein und stellt die Frage, inwiefern es Verbindungen zwischen dem Kolonialismus und dem Holocaust gibt. Dabei wird diskutiert, ob der Holocaust eine extremere Fortsetzung kolonialer Gräueltaten war, oder ob er, wie viele Historiker meinen, in seiner Art und Ideologie singulär ist. Das würde nicht bedeuten, die Kolonialverbrechen zu verharmlosen, sondern beide Verbrechen als historische Einzelfälle mit spezifischen, wenn auch schrecklichen Merkmalen anzuerkennen.
Die Entschuldigung Deutschlands an Namibia und die anhaltende Diskussion
Im Mai 2021, mehr als 100 Jahre nach dem Ende der deutschen Kolonialzeit, entschuldigte sich die deutsche Bundesregierung offiziell für das Unrecht an den Herero und Nama und erkannte die Taten als Völkermord an. Deutschland sagte Namibia 1,1 Milliarden Euro Wiederaufbauhilfe über die kommenden 30 Jahre zu, auch wenn die Diskussionen über die genaue Umsetzung dieser Hilfe nach wie vor andauern.